Forschungsgemeinde

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In der Forschung stehen einander zwei Richtungen gegenüber, die sehr unterschiedliche Pythagoras-Konzepte vertreten. Die eine Richtung (Erich Frank, Karl Ludwig Reinhardt, Isidore Lévy, Walter Burkert, Eric Robertson Dodds) sieht in Pythagoras einen religiösen Führer mit geringem oder keinem Interesse an Wissenschaft; nach Burkert gehört er zum Typus des Schamanen („Schamanismusthese“). Zu den Gegnern der Schamanismusthese gehören Werner Jaeger, Antonio Maddalena, Charles H. Kahn und vor allem Leonid Zhmud, der die gegenteilige Pythagorasdeutung detailliert ausgearbeitet hat. Sie besagt, dass Pythagoras in erster Linie Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler gewesen sei („Wissenschaftsthese“). Manche Philosophiehistoriker suchen eine mittlere Position zwischen den beiden Richtungen, und nicht alle, welche die eine These ablehnen, sind Verfechter der anderen. Die Schamanismusthese ist von Walter Burkert eingehend begründet worden. Sie kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Pythagoras hat sehr wahrscheinlich keinen einzigen Beitrag zur Arithmetik, Geometrie, Musiktheorie und Astronomie geleistet und dies auch gar nicht beabsichtigt. Sein Anliegen war kein wissenschaftliches, sondern es ging ihm um spekulative Kosmologie, um Zahlensymbolik und besonders um die Anwendung magischer Techniken im Sinne des Schamanismus. Für seine Anhänger war er ein übermenschliches Wesen und hatte Zugang zu unfehlbarem göttlichem Wissen. Der Legitimierung dieses Anspruchs dienten ihm zugeschriebene Wundertaten. Die Pythagoreer bildeten eine Kultgemeinschaft, die hinsichtlich ihrer Riten den Mitgliedern ein rigoroses Schweigegebot auferlegte, und waren an zahlreiche im Alltag streng zu befolgende Regeln gebunden. Der Zweck der Schule war primär religiös und schloss auch politische Aktivitäten ein. Wissenschaftliche Bestrebungen traten – wenn überhaupt – erst nach dem Tod des Pythagoras hinzu. Von einer pythagoreischen Philosophie kann zu Lebzeiten des Pythagoras nicht gesprochen werden, sondern erst ab der Zeit des Pythagoreers Philolaos. Das Weltverständnis des Pythagoras war insgesamt ein vorwissenschaftlich-mythisches. Burkert illustriert dies durch Parallelen zur altchinesischen Kosmologie (Yin und Yang) und zu archaischen Vorstellungen indigener Völker. Dieser Auffassung entgegengesetzt ist die Wissenschaftsthese, die insbesondere von Leonid Zhmud vertreten wird. Sie besagt, dass es im griechischsprachigen Kulturraum zur Zeit des Pythagoras die für Schamanismus typischen Phänomene nicht gab. Diese Forschungsrichtung verwirft die These eines weltweit verbreiteten „Panschamanismus“, welche Schamanismus anhand bestimmter phänomenologischer Merkmale feststellt und dabei die Annahme historischer Zusammenhänge zwischen den betreffenden Völkern für unnötig hält. Zhmud argumentiert, es habe bei den Skythen keinen Schamanismus gegeben und eine Beeinflussung Griechenlands oder Unteritaliens durch sibirischen Schamanismus sei ohne skythische Vermittlung nicht vorstellbar. Seiner Auffassung zufolge sind die Berichte über den Glauben der Schüler des Pythagoras an übermenschliche Fähigkeiten und Taten ihres Lehrers und die Beschreibungen der Schule als religiöser Bund mit einer Geheimlehre und seltsamen Tabus unglaubwürdig. Dieses Bild stammte teils von spottlustigen Komödiendichtern, teils war es Ausdruck entsprechender Neigungen in der römischen Kaiserzeit. Der historische Pythagoras war ein Philosoph, der sich um Mathematik, Musiktheorie und Astronomie bemühte und dessen Schüler einschlägige Forschungen durchführten. Unter anderem dürften manche Theoreme Euklids auf Pythagoras zurückgehen. Es gab keinen spezifisch pythagoreischen Kult und Ritus, die Schule war keine Kultgemeinschaft, sondern ein lockerer Zusammenschluss (Hetairie) von Forschern. Diese waren nicht auf Dogmen des Schulgründers eingeschworen, sondern vertraten unterschiedliche Meinungen. Beide Richtungen tragen gewichtige Argumente vor. Für die Schamanismusthese werden die Legenden angeführt, die von Wundertaten und spektakulären Fähigkeiten des Meisters handeln, darunter Wahrsagen, Bilokation und die Fähigkeit, mit Tieren zu reden. Die Legende, er habe einen goldenen Schenkel gehabt, diente dazu, ihn mit Apollon zu identifizieren; manche betrachteten ihn als Sohn Apollons. Andererseits schrieb der Zeitgenosse Heraklit, Pythagoras habe mehr Studien (historíē) getrieben als irgendein anderer Mensch.[19] Diese Aussage wird zugunsten der Wissenschaftsthese angeführt, gerade weil sie von einem zeitgenössischen Gegner stammt, der Pythagoras keineswegs loben will, sondern ihm „Vielwisserei“ vorwirft. Heraklit beschuldigt Pythagoras des Plagiats, womit er anscheinend Verwertung von naturphilosophischem und naturkundlichem Prosaschrifttum meint. Einer heute umstrittenen, in der Antike allgemein akzeptierten Überlieferung zufolge war Pythagoras der Erfinder der Begriffe „Philosophie“ und „Philosoph“. Herakleides Pontikos berichtet, Pythagoras habe auf die Unterscheidung zwischen dem „Weisen“ (sophós) und einem nach Weisheit strebenden „Weisheitsfreund“ (philósophos) Wert gelegt, wobei er sich selbst zu den Philosophen zählte, da nur Gott wirklich weise sei. Solche Bescheidenheit ist unvereinbar mit Burkerts Schamanismusthese, der zufolge Pythagoras sich von seinen Anhängern als unfehlbares übermenschliches Wesen verehren ließ. Burkert bestreitet die Glaubwürdigkeit des Berichts von Herakleides Pontikos, Befürworter der Wissenschaftsthese vertreten auch diesbezüglich die Gegenposition. Auch die Verwendung des Begriffs „Kosmos“ zur Bezeichnung des harmonisch geordneten Weltganzen hat nach antiken Angaben Pythagoras eingeführt. Burkert und andere Forscher zweifeln an der Zuverlässigkeit dieser Überlieferung, Zhmud hält sie für glaubwürdig.